In der (systemischen) Psychotherapie ist die Frage nach dem Nutzen einer Störung oder eines Problems eine sehr zentrale Fragestellung. Davon ausgehend dass jede Störung, jedes als negativ empfundene Gefühl oder jeder psychosomatische Schmerz ein Alarmsignal unserer Seele ist, begegnen wir einem Problem zunächst einmal mit Wertschätzung. Wir betrachten es als wertvollen Hinweis darauf, dass in unserem Leben irgendetwas nicht in Balance ist. Unser kluges inneres Wissen schickt uns somit eine Botschaft, die zu entschlüsseln nicht immer leicht ist.
Es gibt nun einen hartnäckigen Gegenspieler zur Lösung des Problems, der sich in der Psychologie auch „sekundärer Krankheitsgewinn“ nennt. Das bedeutet, dass wir manchmal durch eine Störung etwas gewinnen, was für die Seele so wertvoll ist, dass es schwerer wiegt als das Leid, welches die Störung verursacht.
Betroffene Personen sind hier in einem tiefen inneren Konflikt. Auf der einen Seite ist das Problem, das sie belastet, ihnen das Leben schwer macht und das sie vordergründig loswerden wollen. Auf der anderen Seite ist da aber der große – und in aller Regel unbewusste – Vorteil, den sie aus der Situation ziehen.
Nehmen wir als Beispiel die Frau mit den andauernd wiederkehrenden Schmerzen, für die keine organische Ursache gefunden werden kann.
Natürlich möchte sie nichts lieber als die Schmerzen und die damit verbundenen Ängste und Sorgen um ihre Gesundheit loszuwerden und wieder zu „funktionieren“. Familie und Freunde brauchen sie schließlich, auch wenn das neben ihrem Vollzeitjob ziemlich stressig ist. Der Ehemann ist beruflich und durch sein Hobby stark eingebunden, das Kind mitten in der Pubertät und ständig hat irgendein Freund oder eine Freundin ein Problem, bei dem sie helfen muss. Ihre Eltern leben im Ausland, aufgewachsen ist die Frau bei den mittlerweile verstorbenen Großeltern.
Was sie also dringend braucht ist Zuwendung und Fürsorge.
Stattdessen unterstützt sie andere, wo sie kann. Das Gebrauchtwerden gibt ihr Kraft und Selbstbestätigung und sie hat sich unbewusst ein Umfeld geschaffen, welches scheinbar abhängig von ihrer Hilfe ist und diese auch einfordert.
Diese starke, unabhängige, unterhaltsame Frau, die immer bereit ist, anderen zu helfen und immer eine gute Geschichte zu erzählen hat, wird selbst wenig Hilfe angeboten bekommen. Schließlich strahlt sie ja eine ungemeine Stärke und Heiterkeit aus.
Doch da gibt es noch ihr kluges inneres Wissen, das spürt, dass sie selbst auch dringend Hilfe benötigt. Dieses Wissen schickt ihr eine Schwäche in Form von körperlichen Schmerzen und auch Ängsten, die sie beeinträchtigen und die sie nicht ignorieren kann. Und diese schmerzgeplagte, ängstliche, hilflose Frau hat plötzlich einen besorgen Ehemann, der sie zu Arztbesuchen begleitet. Sie hat Freundinnen, die sich nach ihr erkundigen, wenn es ihr mal wieder schlecht geht. Und sie schafft es sogar beruflich und privat Grenzen zu setzen, um sich um ihre Gesundheit zu kümmern.
Der Konflikt liegt auf der Hand:
Kümmert sie sich um ihren seelischen Schmerz, der dem körperlichen zugrunde liegt, besteht nicht nur das Risiko, dass Dinge angeschaut und ausgehalten werden müssen, die womöglich schmerzhaft, zumindest aber ungewohnt und damit beängstigend sind. Sie läuft auch Gefahr, all die Aufmerksamkeit, nach der sie sich so sehnt und die sie durch ihre Schmerzen erhält, wieder zu verlieren. Sie bekommt weniger positiven Zuspruch von Familie, Freunden und Ärzten und hat auch keine Gründe mehr dafür, anderen gegenüber Grenzen zu setzen. Sie wäre in Job und Privatleben wieder voll einsetzbar und keinen würde es mehr interessieren, wie es ihr geht.
Die Angst vor Veränderung und das fehlende Vertrauen in die Möglichkeit, dass sich die Dinge auch zum Besseren wenden könnten, ist häufig größer als der Leidensdruck, den bereits vertrauten körperlichen Schmerz (oder ein anderes Problem) auszuhalten. Und nicht selten entscheiden sich Menschen dafür, lieber in ihrem gewohnten Leid zu bleiben anstatt das Neue zu wagen. Das muss respektiert und wertgeschätzt werden. Manchmal dauert der Weg etwas länger, bis das kluge innere Wissen bereit ist, in Frieden mit sich und seinem Körper zu leben. In manchen Fällen entscheidet es sich aber auch nie dafür. Dann gilt es das vorhandene Leid auszuhalten und bestenfalls zu lindern. Auch das kann eine Entscheidung sein.
Dr. Dominique Schwarz, Heidelberg