Der von mir sehr geschätzte Therapeut Robert Betz hat einmal gesagt: „Als Kinder sind wir Löwen. Dann dressiert man uns zu Schafen.“
Was heißt das?
Wir alle werden als vollkommene Wesen geboren, mit einem freien Willen, Durchsetzungsvermögen und der Fähigkeit, unsere Bedürfnisse zu erkennen und lautstark dafür zu kämpfen. Doch bereits im Babyalter fängt das Leben – in Form unserer Eltern oder anderer Bezugspersonen – an, uns in die eine oder andere Richtung zu prägen und zu biegen. Wir lernen, welches Verhalten erwünscht und welches unerwünscht ist, wir erfahren, wofür wir mehr Liebe und Zuwendung bekommen und wofür weniger. Das Stillen unserer Bedürfnisse hängt dabei komplett von der Zuwendung unserer Eltern – respektive anderer Bezugspersonen – ab.
Die meisten von uns kennen das sehr gut: Ist ein Kind ruhig, artig und fröhlich, bekommt es Anerkennung und positive Verstärkung. Ist es laut, wütend oder traurig, versuchen die Eltern alles, um dieses unerwünschte Verhalten abzustellen. Sei es durch Ablenkung, Schimpfen oder gar Strafen.
Zeigt ein Kind also seine Wut, seinen Ärger und Unmut, schreit es diese Gefühle in die Welt hinaus, wird es in der Regel nicht darin bestätigt. Das hat den einfachen Grund, dass Eltern es nicht aushalten können, ihr Kind traurig oder verzweifelt zu sehen. Weil sie diese Empfindungen selbst bei sich ablehnen.
Das Kind lernt auf diese Weise, dass manche Gefühle keinen Platz haben dürfen und schnellstmöglich abzustellen sind. Durch Ablenkung oder Verdrängung oder sonstiges. Und schon ist das freie, sich entfaltende und seine Bedürfnisse lautstark kundtuende Löwenkind auf dem Weg zum Schaf zu werden. Angepasst, der Herde folgend. Ein Kind hat keine andere Überlebensmöglichkeit, als sich seiner Herde anzupassen, von der es existenziell abhängig ist. Welche Muster dabei übernommen werden, ist von Familie zu Familie anders.
Spüren Sie doch mal in sich hinein, ob Sie ihre eigene Geschichte in den letzten Absätzen wiedererkennen? Wie haben Ihre Eltern reagiert, wenn Sie wütend oder laut waren? Und hatten Sie das Gefühl, dass Ihre Bedürfnisse weitgehend erfüllt, Ihre Gefühle akzeptiert wurden oder mussten Sie immer dafür kämpfen und haben schließlich den aussichtslosen Kampf aufgegeben und sich gefügt?
Wenn Sie häufig das Gefühl haben, in Ihnen brodelt es wie in einem Hexenkessel, wenn Sie überschießende Wutausbrüche an unangemessener Stelle haben, wenn Sie sich fühlen wie ein Löwe im Käfig, dann ist es an der Zeit, dem Löwenkind in sich mal nachspüren und sich auf den Weg zu machen, es zu stärken und lebendig zu machen. Nur wenn unsere Gefühle sich angemessen entfalten und äußern dürfen, ist ein gesundes und ausgeglichenes Leben möglich.